Vom sich verlieren und wiederfinden

Nach 2,5 Wochen hatte ich die Autoschlüssel wieder in meiner Hand. Es war ein gutes Gefühl.

Diese Erinnerung knipste allerdings relativ zügig auch eine andere in mir an.

Ich war etwas aufgeregt, vielleicht weil ich wieder vor einer mir bekannten Situation gestanden habe. Innerhalb von 17 Tagen kann man sich an einiges gewöhnen, erst Recht, wenn es einem gefällt.

Ich steckte also den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Der Hall von „Herrn Anders“ Auspuff war wie ein Säuseln in meinen Ohren. Ich hatte es ein bisschen vermisst, weshalb es auch ein stimmiges Gefühl gewesen ist, dem Kribbeln im rechten Fuß nachzugeben. Attacke, gestärkt, vollgepackt mit qualitativ hochwertigem Gemüse und übrig gebliebener Suppe von François und Angelique rollten wir vom Hof. In Richtung Rouen. Ich hatte ein gutes Gefühl in mir, die Sonne schien und Pipacs war auch entspannt. Schon nach kurzer Zeit ging die ABS Leuchte an. Ich erinnerte mich, dass es vor Ankunft in Bonneuil-en-Valois bereits auch der Fall gewesen ist. Es war wie eine Erinnerung. Nun gut, „Herr Anders“ wäre nicht „Herr Anders“, wenn alles glatt laufen würde.

Diese Erinnerung knipste allerdings relativ zügig auch eine andere in mir an. Etwa die, meines Zustandes zu Beginn meiner Abfahrt.

Vollzeit-Entzug & der Großbrand in einer Chemiefabrik

Mir ging es mieß!...es war wie ein Entzug. Zumindest stellte ich mir so einen vor. Wieder flatterte mir das Herz, wieder hatte ich mich Hundsmiserabel gefühlt, verloren und wollte zurück. Erneut wollte ich alles hinschmeißen. Es ist einfach unfassbar, mit was für einer geballten Ladung an Emotionen ich in diesen paar Wochen konfrontiert worden bin. Freude, aufgeregt sein, positiv gestimmt, völlig verloren, klein und unsicher, gefestigt, angekommen, aufgehoben, vertraut, angenommen, alleine, mutlos, ängstlich, verzweifelt. Klar, dass es mir vorkam wie ein Vollzeit-Entzug auf psychischer Ebene.

Ich fuhr weiter. Ich schaffe das. Es ist total normal, du gibst schon wieder eine Sicherheit auf. Nämlich die Gewohnheit. Die Gewohnheit alles auf relativ normalen Wege erledigen zu können. Normal duschen, normal Kaffee kochen, normal essen am Tisch usw. Tränen rollten mir über die Wangen. Ich fuhr über Land. Vorbei an Feldern, durch kleine Dörfer und schließlich durch Rouen. Hölle. Die Unsicherheit in mir nahm zu. Die Straßen waren voll, überall wurde gebaut und es gab Höhenlimits. Ich machte mitten auf einer breiten Straße einen U-turn und kam irgendwann raus aus dem Höllenlärm. Später erfuhr ich, dass es einen Tag zuvor einen Großbrand in einer Chemiefabrik gegeben hatte und die Stadt in Aufruhr gewesen ist. Logisch, dass ich diesen Zeitpunkt abgepasst habe. Wen wundert’s? ...mich nicht…;)

Letztlich fand ich nach 235 km einen kostenfreien Stellplatz in Jumièges für Camper. Nicht weit von DEM Fluss Seine entfernt. Es regnete in Strömen. Neben uns stand ein Wohnmobil mit deutschem Kennzeichen. Rentner aus Osnabrück und Pipacs verstand sich auf Anhieb gut mit dessen Hund. Der Anblick hat mich ein bisschen den Moment genießen lassen können. Ich führte ein paar Telefonate, weinte und schlief ein.

Seine

So abrupt der Abend endete, so abrupt verließ ich eigentlich auch den Platz. Pipacs und ich hatten einen kleinen Rundgang zum Fluss gedreht und verabschiedeten uns von dem deutschen Paar und dessen Hund.

18 Jahre später im One- Way- Prinzip

Ich brauchte den Ozean. Etwas Weites. Freiheit. Also fuhr ich los. Mittlerweile leuchtete nicht nur die ABS Anzeige, sondern auch die EPS Anzeige auf. Ich war friedlich, sie leuchteten eben im satten Gelb, passend zum Herbst. Ich bin etwas entspannter geworden über Nacht.

Houlgate. Was für ein schöner kleiner Ort. Ein weiter Strand, der Atlantik und süße kleine und auch sehr große Häuser. Mein Anker. Ich fühlte mich besser. Atmete tief durch und ließ die grenzenlose Aussicht auf mich wirken. Fräulein Schwarz Punkt (Pipacs) fühlte sich Sau wohl und machte einen Purzelbaum nach dem anderen. Vielleicht brauchte auch sie einmal Vollgas im Turbogang um alles heraus zulassen. Ohne Antiblockiersystem.

hund

Nach einer Stunde und ein paar Muscheln reicher fuhr ich weiter nach St. Malo. Irgendwas in mir wollte da unbedingt nochmal hin.

brücke

Angekommen auf einem Camperplatz mit Strom und Wi-Fi für 16,5o Euro die Nacht und sonst nix weiter, blieb ich erstmal skeptisch auf dem dazu gehörigen Parkplatz stehen. Ich schmiss meinen Luzifer an und machte mir die Suppe warm. Etwas später und ein paar Schritte weiter fand ich einen super, perfekten, "besser geht´s nicht- Platz" hinter einer kleinen Brücke. Direkt am Fluss Couesnon. Mit Blick auf´s Unesco Welterbe Mont St. Michel. Hinter uns parkten Deutsche mit ihrem Wohnmobil. Auch sie fahren durch Frankreiche. Ich kam mit dem älteren Pärchen ins Gespräch. Es war ein gute Unterhaltung, die mich etwas ablenkte. Langsam fühlte ich mich nicht mehr so unsicher. Im Gegenteil, es war ein ruhiges Gefühl in mir. Pipacs und ich vertraten uns noch ein wenig die Beine in Richtung Schloss. Es waren unfassbar viele Menschenmassen da, also drehten wir um und verkrochen uns bei Sturm und Regen im Bus.

schloß

Es war kaum auszuhalten und ich wusste wirklich nicht, warum ich unbedingt zu diesem Schloss wollte. Wir waren früh wach, also traten wir halb neun erneut den Weg an. Ich war aufgeregt. Immer wieder musste ich auf dieses Schloss starren. Ich ha ich mir vorgestellt, was da für ein reges Treiben vor 1oo´ten von Jahren gewesen sein muss. Die ersten Busse fuhren an uns vorbei und mir fiel auf, dass diese 2 Fahrerkabinen besaßen. One Way Prinzip?...oha...du meine Güte. Vor dem Eingang angekommen, war ich hin- und hergerissen, ob ich da nun hereingehen sollte oder nicht. Ich ging. 18 Jahre ist es her, dass ich hier gewesen bin und meine erste Crêpepfanne gekauft habe. Die ersten 2oo m waren extrem zu viel für uns. Geschäfte, Cafés, Tourikrempel und Hotels. Wir sind einfach vorbei und hatten tatsächlich eine Gasse für uns gefunden. Nach 3o min waren wir aber auch schon wieder draußen. Weshalb ich das gemacht habe?... Ich weiß es nicht, vielleicht war es der Reiz, dass auch ich etwas Kulturelles mache auf meiner Reise. Es war einzig und allein, deshalb möglich, da ich noch im "Frühwachwerden-Modus“ gewesen bin.

Ich atmete tief durch, hatte mich mich gut, zufrieden, gesättigt und glücklich gefühlt.

Nach einem kleinen Zwischenstopp an der Promenade von Pornic sind wir nach 4 Stunden an unserem Übernachtungsplatz angekommen. Auf einem acker, direkt vor einem Deich. Es erinnert mich an zu Hause, an den Bodden. Allerdings war hinter dem Deich kein Wasser. Ebbe. Nichts.

deich

Neben uns. Deutsche. Aus Wuppertal mit Riesenschnauzer und Riesenwohnmobil. Wir hatten eine angenehme Unterhaltung. Ich hatte mir etwas zu essen gekocht und mir noch einen Cappuccino gegönnt. Der Ort gefiel mir. Er beruhigte mich. Pipacs lag im Bett und zuckte vor sich hin und auch ich ging wenig später ins Bett und lauschte dem Wind, der an „Herrn Anders“ rüttelte. Ich atmete tief durch, hatte mich gut, zufrieden, gesättigt und glücklich gefühlt. Kuschelte mich an Pipacs und hatte die vergangenen Tage auf mich wirken lassen, sowie den Ort an dem ich bin. Ich hatte mich verbunden gefühlt und war sehr dankbar endlich wieder dieses Gefühl in mir wahrzunehmen. Der Regen prasselte auf´s Dach und an diesem Standpunkt gab es leider wirklich nicht viele Möglichkeiten Neues zu entdecken.

Also kamen wir wenig später an einem Fleck an, der in mir etwas veränderte.

Irgendwo im Nirgendwo in Jard- sur-Mer rollte „Herr Anders“ mit uns eine schmale Teerstraße entlang. Mittendurch einen Kiefernwald. Ich hörte das Meer rauschen. Nicht weit von einem anderen VW Bus parkte ich rückwärts ein, schnappte mir Pipacs und ließ mich nicht lange bitten zum Strand zu gehen. Exzellent, allein der Zaun am Strandaufgang ließ in mir ein ursprüngliches Gefühl aufsteigen. Am Strand waren ein paar Surfer, sonst niemand.

strand

Meine Chance, dieses Ursprungsgefühl zu verankern und verhältnismäßig großes Bad zu nehmen. Was für eine Wohltat. Kurze Zeit später fand ich einen Hühnergott und einen Stein, der ausgesehen hat wie ein Herz. Es erinnerte mich etwas an die Farm in Bonneuil-en-Valois. Dort hatte ich auch sehr oft Gemüse in Herzform gefunden. Hühnergötter bringen Glück und auf der Farm hatte ich ein ausgezeichnet gutes Gefühl. Vielleicht ist es hier ja genauso, dachte ich.

steine

Ich ging ein paar Schritte grinsend am Strand entlang und freute mich über meine Ausbeute. Pipacs rannte und war wieder ihren „Purzelbäume machen“ verfallen. Sie steckte mich mit ihrer unschuldigen Leichtigkeit an und ich machte Handstand.

handstand

Während ich da also auf meinen Händen gestanden hatte, fiel mein Blick immer wieder auf die Steine. Unmissverständlich war ich wohl tatsächlich an einem Glücksstrand gelandet. Jeder zweite Stein hatte nicht nur ein Loch, sondern 3 oder 5, manchmal war auch einer total durchlöchert. Hühnergötter wie Sand am Meer. Genial. Zack noch ein Radschlag hinterher.

ratschlag

Zurück bei „Herrn Anders“ hatte ich mich in die Hängematte geworfen und gelesen. Auch die Nachbarn pellten sich aus ihrem Bus. Dieses Mal sind es junge Leute gewesen. Wir warfen uns mehrfach flüchtige Blicke zu und versuchten so normal wie möglich zu wirken. Waren dabei allerdings so unnatürlich angespannt, dass meine Hängematte aufgehört hatte durchzuhängen. Nee, aber dieses Gefühl von man möchte sich gern freundlich vorstellen, aber nicht die Privatsphäre des anderen stören, ist schon echt lächerlich. Unsere Busse standen nämlich keine 2o m auseinander.

Nach einem gepflegten, nordischen „Moin“ sollte diese distanzierte Anspannung in 1oo% Sympathie umgewandelt werden. So lernten wir also Valerie und Paul kennen. Mitte 2o und zum Relaxen und Surfen hier. 1 Woche Urlaub genießen, raus aus dem Arbeitsalltag.

surfen

Diesen Komfort teilten wir uns für 2 Tage (ursprünglich wollte ich nur eine Nacht hier bleiben)mit vollem Enthusiasmus und Empathie, die mit dem Herzen auf der Zunge liegt (immer noch) und es war, als ob es nie anders gewesen ist.

*Surfen fetzt schon. (Danke, ihr zwei beiden)

Wirklich mal für sich sein und dann wieder mit ein paar Konfrontationen überrascht werden.

sonne

Dieser Strand war einfach für uns genau das richtige! Ich fühle mich jetzt ausgeglichen. Angekommen. Noch nicht vollkommen. Aber meine Unsicherheit, Dinge ganz alleine zu entscheiden, in welche Richtung wir fahren, wie wir aus komplizierten Situationen herauskommen. Wie ich damit umgehe, wenn ich mich verloren fühle oder alleine, wenn ich einfach nicht weiter weiß, ist um einiges geschrumpft. Wenn ich auf mein Gefühl achte und an einem Ort wie diesen ankomme, den Moment mit Pipacs zusammen zu sein, wie ein Kind genießen kann,dann fühle ich mich frei. Wir sind mit den kleinen Dingen zufrieden, brauchen nicht viel. Freuen uns über jedes Lächeln und jedes Bonjour. Über Situationen,in denen wir völlig für uns sein können und die wir mit anderen Menschen teilen können. Wir sind angekommen, vertrauen, akzeptieren und haben uns wieder gefunden (auch Pipacs, sie vor meiner Zeit ein sehr traumatisierter Hund).

Wirklich mal für sich sein, alleine mit sich selbst und dann wieder mit ein paar Konfrontationen überrascht werden . Das macht etwas mit einem. Und das ist eine MEGA Erfahrung, die es mir wert ist zu machen.

life

*o4.1o.- o9.1o. 2o19

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